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Grundsätzliches zum Rhythmus
Unter dem Rhythmus bzw. dem Bewegungsfluss der Melodie wird die Gleichmäßigkeit der Zeitdauer im Heben (Arsis) und Senken (Thesis) der Stimme verstanden. Im Verhältnis des zeitlichen Wechsels von Arsis und Thesis liegt die Verschiedenheit des Rhythmus begründet. Ein gleichmäßiger zeitlicher Wechsel wird als Taktrhythmus bezeichnet, wie wir ihn aus der modernen Musik kennen. In der Gregorianik vollzieht sich der Wechsel von Hebung und Senkung im Gegensatz zur modernen Musik jedoch ungleichmäßig, weil er sich an der Betonung inhaltlicher Schwerpunkte des zu singenden Textes orientiert. Deshalb wird der Rhythmus in der Gregorianik auch als freier Rhythmus bezeichnet.
Arsis
Als Arsis (zu deutsch: Spannung) wird das Heben der Stimmen bezeichnet. Damit wird in der Gregorianik eine unbetonte Zeiteinheit bezeichnet.
Thesis
Als Thesis (zu deutsch: Lösung) wird das Sinken der Stimme bezeichnet. Damit wird eine betonte Zeiteinheit bezeichnet.
Im freien Rhythmus der Gregorianik erfolgt der Wechsel zwischen betonten und unbetonten Zeiteinheiten ungleichmäßig, wobei niemals zwei betonte Zeiteinheiten aufeinander folgen können. Auf eine betonte folgen immer eine oder zwei unbetonte Zeiteinheiten. Die Unterschiedlichkeit der Zeitwerte wird zudem durch Wiederholung derselben Zeit oder aber durch Dehnung gebildet und nicht durch Teilung der Zeiteinheiten in Halbe, Viertel oder Achtel.
Charakteristische Merkmale
Welche spezifischen Merkmale weist der Gregorianischen Choral hinsichtlich Rhythmus und Melodieführung auf?
- Den Gregorianischen Choral kennzeichnet eine einfache Melodieführung mit kleinen Intervallen, die ohne große Sprünge im Rhythmus auskommt.
- Zudem weist die Gregorianik kein vorgeschriebenes Tempo auf, sondern orientiert sich am jeweiligen Text des Chorals. → Es gibt weder ein festes Metrum (Takt, Zeitmaß bzw.Tempo), noch eine absolute Tonhöhe.
- Es besteht häufig eine direkte Beziehung zwischen Neumen und vertontem Text, indem die Artikulation der Wörter durch die Neumen entsprechend unterstützt wird.
- Die Betonung der lateinischen Wörter bzw. Silben (sind mit einem Akzent „´“ versehen) hat einen direkten Einfluss auf den Rhythmus, weil sie etwa doppelt so lang wie die nicht betonten gesungen werden.
- Der Rhythmus der Gregorianischen Choräle orientiert sich am Sprachrhythmus. → „Singe wie Du schön sprichst.“
- Es gibt Tonwiederholungen auf einer Silbe, die wiederholend an- und abschwellend gesungen werden.
- Die Melodien der Choräle werden gebunden, also ohne Abstände zwischen den Tönen (legato) gesungen.
- Als rhythmische Hinweiszeichen dienen in der Gregorianik sowohl die adiastematischen Neumen (wie sie im Liber Usualis zu finden sind) als auch das Dehnungszeichen Episem (Erklärung siehe unten), die häufig über den Choralnoten zu finden sind und das Tempo beim Singen vorgeben: Kurz und schnell (kurrent) gesungene sowie langsam (nicht kurrent) gesungene Töne bzw. Tongruppen.
Beziehung zwischen Text und Melodie
In der Notation wird zwischen syllabischer, oligotoner und melismatischer Textverteilung (Vertonungsstile) unterschieden: Zumeist sind die Neumen dem Text syllabisch zugewiesen (je Ton eine Silbe). Die oligotone Verteilung besagt, dass wenige Töne auf einer Silbe gesungen werden. Schließlich kennzeichnen die Melodien der Gregorianischen Choräle sowohl kleine als auch ausschweifende Melismen (Verzierungen), wobei sich letztere besonders häufig in den für die Solisten zu singenden Teile eines Chorals finden lassen. Folgende musikalische Grundformen kommen im Gregorianischen Choral zur Melodiebildung vor:
Syllabik / Syllabismus
Beim Syllabismus (zu deutsch: „silbenweise“) wird jedem Ton nur genau eine Silbe zugeordnet. Syllabismen finden sich häufig in Verbindung mit den Einzeltonneumen, wohingegen Gruppen- oder Mehrgruppenneumen oft mit Melismen (mehrere Töne je Silbe) versehen sind.
Oligotonischer Stil
Bei dieser Textverteilung werden wenige Töne auf einer Silbe gesungen. Somit kommen auf eine Silbe mehrere Noten. Es handelt sich um eine Mischform aus Syllabik und Melismatik.
Melismatik / Melisma
Das Melisma (zu deutsch: „Lied, Weise, Gesang“) ist eine melodische Verzierung, bei der eine ganze Tonfolge oder Melodie auf einer Silbe gesungen wird. Somit kommen auf eine Silbe mehrere Noten. Melismen finden sich zumeist in Verbindung mit Gruppen- oder Mehrgruppenneumen, wohingegen bei den Einzeltonneumen hauptsächlich Syllabismen (je Ton eine Silbe) zum Einsatz kommen.
Jubilus
Eine Sonderform des Melismas ist der Jubilus. Dieser bezeichnet die verzierende Ausgestaltung des letzten a im Alleluia (mehrere Töne auf einem Vokal).
Pausen & Asteriscus
1. Welche Pausen gibt es?
Wichtig beim Singen ist zudem das Einhalten der unterschiedlichen Pausen, die uns die Notation des Chorals vorgibt. Dabei wird zwischen vier verschiedenen Pausen unterschieden:
Pausa minima:
Bei der Pausa minima (kleinste Pause) wird die Stimme kurz ausgehalten oder ein kurzer Atemzug gemacht.
Pausa minor:
Die Pausa minor (kleine Pause) wird als Unterbrechung beim Atmen gemacht. Sie kommt zumeist dann vor, wenn im Text ein Komma gesetzt ist.
Pausa maior:
Bei der Pausa maior (große Pause) wird während des Gesangs ein tiefer Atemzug genommen. Sie kommt häufig in Verbindung mit einem Doppelpunkt im Text vor. Der letzte Ton vor einer solchen Pause wird zudem länger gehalten.
Pausa finalis:
Die Pausa finalis (Schlusspause) steht einerseits am Ende eines Chorals und andererseits markiert sie den Wechsel zwischen Vorsänger zu Choralschola bzw. Schola zu Gemeinde oder umgekehrt.
2. Was ist ein Asteriscus?
Eine ähnliche Funktion wie die Pausen hat auch der Asteriscus (zu deutsch: „Sternchen“), der in den Noten des gregorianischen Chorals zum Einsatz kommt, um der Choralschola zu zeigen, an welchen Stellen ein einzelner oder mehrere Kantoren in den begonnenen Versgesang einzustimmen haben.
Asteriscus:
Dehnungszeichen
In der Notation gibt es spezielle Zeichen (Mora, Episem und Iktus), die Dehnungen bzw. Tonverlängerungen im Melodieverlauf anzeigen. Die Beachtung dieser Dehnungszeichen hat ebenfalls Einfluss auf einen gleichmäßigen Rhythmus.
1. Mora
Bei der Mora (zu deutsch: „Verzögerung“) handelt es sich um ein Dehnungszeichen in Form eines Punkt, das zumeist hinter einer Einzeltonneume steht und eher selten nach einer Gruppenneume gesetzt ist. Die Töne werden doppelt so lang wie sonst gesungen.
2. Episem
Beim Episem handelt es sich Betonungszeichen in Form eines waagerechten oder senkrechten Striches, das unterhalb oder oberhalb einer Einzeltonneume bzw. Gruppenneume steht. Die mit einem solchen Episem versehenen Töne werden zumeist doppelt so lang und stärker betont gesungen, was aber nicht einheitlich festgeschrieben ist.
Porrectus episemiert:
Pes episemiert:
Clivis episemiert:
Torculus episemiert:
3. Iktus
Der Iktus (zu deutsch: „Schlag“) ist eine Betonung in Form eines senkrechten Striches und wird auch als vertikales Episem bezeichnet.
Quellen:
- Bauer, Rudolf: Gregorianik. Faszination der Entschleunigung; Trier 2016, S. 57ff.
- Bautsch, Markus: Grundlagen des Gregorianischen Gesangs; In: Bildungsstätte Haus Ohrbeck e.V., URL: http://www.mater-dolorosa-lankwitz.de/wiki/doku.php/musik:grundlagen_des_gregorianischen_gesangs (abgerufen am 09.04.2020)
- Caiter, Franz: Graduale für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis. Auszug aus dem Graduale Romanum der Editio Vaticana (Editio Typica 1908), bearbeitet und geordnet nach Ordo Cantus Missae (1972); Stuttgart 2008.
- Klöckner, Stefan: Singend beten lernen. Gregorianische Gesänge mit Textgrundlage aus den Psalmen; In: Bildungsstätte Haus Ohrbeck e.V., URL: https://www.haus-ohrbeck.de/fileadmin/user_upload/02_Haus-Ohrbeck/Bibelforum/Bibelwoche/2019/Vortrag_Stefan_Kloeckner.pdf (abgerufen am 04.04.2020)
- SCHOTT, Das vollständige Römische Messbuch, lateinisch und deutsch; Freiburg im Breisgau ⁴1958, Kyriale S. VIIf.