Neumen / Quadratnotation

Wer das Singen des gregorianischen Chorals erlernen möchte, für den ist die Beschäftigung mit den Neumen bzw. der Quadratnotation unumgänglich, weil diese uns den Verlauf der Melodien sowie deren richtige Interpretation anzeigen.

Was sind Neumen?

Bei den Neumen (vom griechischen Begriff „νεῦμα“ („neuma“) → „Wink“) handelt es sich um spezielle graphische Zeichen, Figuren bzw. Symbole über den zu singenden Texten, die in der Notation des gregorianischen Chorals zum Einsatz kommen. Sie haben ihren Ursprung im 8. bzw. 9. Jahrhundert und dienen dazu den melodischen Lauf der Melodien sowie die gewünschte Interpretation der gregorianischen Choräle festzuhalten. Es wird dabei zwischen zwei Gruppen von Neumen unterschieden:

adiastematische Neumen

Adiastematische Neumen - Gregorianik
adiastematische Neumen

Die adiastematischen Neumen bezeichnen die in der Entwicklung ältere Form (dargestellt werden sie als kleine Striche, Punkte und Häkchen über den Texten), die zwar noch keine genauen Intervalle bzw. Tonhöhen der Melodien wiedergeben, aber bereits eine Richtung der Melodie anzeigen. Sie können besonders gut den Rhythmus, Artikulation bzw. die Betonungsschwerpunkte einer Melodielinie wiedergeben, weshalb sie in neueren Choralbüchern (z.B. im Graduale Triplex) zusätzlich unter den quadratischen Neumen (Choralnoten) hinzugefügt werden.

diastematische Neumen

Diastematische Neumen - Gregorianik
diastematische Neumen

Bei den diastematischen Neumen (diastematisch = Tonabstand) handelt es sich um Tonhöhen anzeigende Neumen, da sie die Melodiebewegung intervallisch sichtbar machen. Mit den durch Guido von Arezzo (992-1050) erfundenen horizontalen Neumenlinien und Notenschlüssel bilden sie die Grundlage für die bis heute gängige Notation der Choräle (auch Quadratnotation genannt). Die quadratförmigen Choralneumen, wie sie aktuell im Graduale und Liber Usualis zu finden sind, stellen eine Weiterentwicklung dieser Neumengruppe dar.


Was ist die Quadratnotation?

Quadratnotation - Neumen
Choral mit römischen Choralneumen

Als Quadratnotation wird die letzte Entwicklungsstufe der Tonhöhen anzeigenden Neumen bezeichnet, die in der Kirchenmusik stattgefunden hat. Sie entwickelte sich auf Basis des durch Guido von Arezzo im Jahr 1028 erfundenen horizontalen Neumenlinien-Systems (Notation auf vier Linien im Terzabstand), mit dessen Hilfe es nun möglich war, die Tonhöhe einzelner Töne anzuzeigen und Tonintervalle festzulegen. Ab etwa dem Ende des 12. Jahrhunderts wurde es schließlich üblich die Neumen aufgrund der Verwendung von Federkielen quadratisch darzustellen. Diese bis heute in Choralbüchern verwendete quadratische Notation wurde im Zuge der Wiederherstellung des Gregorianischen Chorals im Laufe des 19. Jahrhundert standardisiert. Dazu wurden die anzeigenden Quadratneumen mit Dehnungszeichen und Tonverlängerungen ergänzt, um auf diese Weise einen differenzierten Rhythmus wiederzugeben.

Notenlinien

Notenlinien - Gregorianik

Das Notensystem umfasst in der Gregorianik vier Notenlinien, die von unten nach oben gezählt werden. Manchmal ist oben und unten noch jeweils eine Hilfslinie angegeben.

Intervalle

Intervalle – Quadratnotation – Gregrorianik

Das Intervall (Zwischenräume) bezeichnet den Abstand von zwei Tönen nach ihrer Höhe oder Tiefe. Es wird im Choral zwischen einem Ganzton (Abstand von zwei Tönen innerhalb benachbarter Zwischenräume) und einem Halbton (Abstand zwischen einer Notenlinie zum Zwischenraum) unterschieden, wobei sich die Halbtöne je nach Modus (Tonart) an verschiedenen Orten befinden. Weitere Unterscheidungen sind kleine und große Terz, reine und übermäßige Quarte sowie die Quinte.

Hinweis! Die am Beginn eines jedes Chorals über der Initiale stehenden Abkürzungen zeigen an, um welchen Messgesang es sich handelt (z.B. Int. für Introitus, Grad. für Graduale, Offert. für Offertorium usw.). Bei den Psalmen ist am Beginn der Notation immer der zu singende Psalmton in römischen Ziffern vermerkt.


Welche Neumen gibt es?

In der Neumenkunde wird in der Regel zwischen Grundneumen, Verzierungsneumen und liqueszierenden Neumen unterschieden, die wir Ihnen hier näher vorstellen möchten. Die folgenden Darstellungen der Neumen wurden aus dem Graduale der Editio Vaticana von 1908 entnommen.

1. Grundneumen

Bei den Grundneumen handelt es sich um Einzeltonneumen (bestehen wie der Name schon sagt nur aus einem Ton) oder Gruppenneumen (Doppelton- oder Dreifachtonneumen), die auf beliebiger gleicher oder unterschiedlicher Tonhöhe stehen können.

Punctum / Oriscus:

Neume - Punctum

Beim Punctum bzw. Punctus (zu deutsch: „Punkt“) bezeichnet eine Einzeltonneume, die häufig unbetont, aber auch betont vorkommen kann.

Punctum inclinatum:

Neume - Punctum inclinatum

Beim rautenförmigen Punctum inclinatum (auch als Rhombus bezeichnet) handelt es sich ebenfalls um eine Einzeltonneume.

Virga:

Neume - Virga

Bei der Virga (zu deutsch: „Stöckchen“) handelt es sich um eine Neume mit vertikalem Notenhals (rechtseitig an der Quadratneume). Sie ist immer eine betonte Note.

Quilisma:

Neume - Quilisma

Das gezackte Quilisma (bewegliche, nach oben strebende Note) wird als leichte Durchgangsnote (über sie wird schnell hinweg gesungen) oder mit einem leichten Vibrato (bebender Stimme) gesungen. Sie ist eine melodische Verzierung.

Pes / Podatus:

Neumen - Podatus vel Pes

Der Pes (zu deutsch: Fuß) ist eine Doppelneume, bei der zuerst der unterste der beiden Töne gesungen wird. Somit stellt diese Neume eine Aufwärtsbewegung dar. Er sorgt für eine Intensivierung der Melodie im Vortrag. Der erste Ton wird kürzer gesungen, wohingegen auf dem zweiten Ton die Betonung liegt.

Clivis / Flexa:

Neumen - Clivis vel Flexa

Die Clivis (zu deutsch: „Hügel“) ist eine Doppelneume, von der zuerst der oberste der beiden Töne gesungen wird. Damit handelt es sich hier um eine Abwärtsbewegung, bei der die Melodie weitergereicht wird. Häufig steht die Clivis auf leichten Silben.

Torculus:

Neumen - Torculus

Der Torculus ist eine Dreifachtonneume, die als Bogen gesungen wir. Die Stimme folgt zuerst einer Aufwärtsbewegung und danach einer Abwärtsbewegung.

Porrectus:

Neumen - Porrectus

Beim Porrectus (zu deutsch: „strecken“) handelt es sich um eine Gruppenneume, die ebenfalls als Bogen gesungen wird, jedoch zuerst als Abwärtsbewegung nach unten und von dort wieder nach oben.

Climacus:

Neumen - Climacus

Der Climacus (zu deutsch: „kleine Treppe“) ist eine Dreifachtonneume, die als längere Abwärtsbewegung gesungen wird.

Scandicus:

Neumen - Scandicus

Der Scandicus (zu deutsch: „klettern“) ist eine Dreifachtonneume, die nach oben strebt und somit als längere Aufwärtsbewegung gesungen wird.


2. Verzierungsneumen

Zu den Verzierungsneumen werden jene Neumen gezählt, die besondere Gesangspraktiken oder Melodieformeln erfassen. Es handelt sich hierbei um Gruppenneumen, die sich aus mehreren Einzeltonneumen zusammensetzen.

Bivirga:

Neume - Bivirga

Bei der Bivirga bzw. Distropha („zweifaches Stöckchen“) handelt es sich um eine zweifache Hintereinanderausführung des Punctum. Es gibt zudem noch die Trivirga bzw. Tristropha, also das Singen von drei Tönen hintereinander auf gleicher Tonhöhe.

Trigon:

Neumen - Trigon

Der Trigon ist eine Dreitonneume, die als Abwärtsbewegung gesungen wird. Dabei folgen auf zwei höhere Töne mit gleicher Tonhöhe ein tiefer Ton.

Salicus:

Neumen - Salicus

Der Salicus ist eine Dreitonneume, die als Aufwärtsbewegung gesungen wird. Dabei werden zwei Töne auf gleicher Tonhöhe von einem höheren Ton gefolgt. Die Betonung soll besonders auf der ersten Note liegen.

Pressus:

Neumen - Pressus

Der Pressus (auch Pressus maior) ist eine Dreitonneume, die als Abwärtsbewegung gesungen wird. Dabei folgen auf zwei höhere Töne mit gleicher Tonhöhe ein tiefer Ton.

Es gibt zudem weitere Verzierungsneumen wie die Virga strata, den Pes stratus sowie den Pes quassus.


3. Liqueszierende Neumen

Als Liqueszenzen (zu deutsch: „schmelzen“) werden in der Notation des Gregorianischen Chorals spezielle Neumen bezeichnet, die einen Hinweis auf Besonderheiten bei der Aussprache des zu singenden Textes geben.

Ancus:

Neumen - Ancus

Beim Ancus handelt es sich um einen liqueszensierten Climacus.

Cephalicus:

Neumen - Cephalicus

Beim Cephalicus (zu deutsch: „Kopf“) handelt es sich um eine liqueszensierte Clivis.

Epiphonus:

Neumen - Epiphonus

Der Epiphonus (zu deutsch: „Darüber-Ton“) stellt die liqueszensierte Form des Pes dar.


4. Gruppenneumen mit Zusätzen

Die Gruppenneumen können teilweise mit weiteren Besonderheiten durch Hinzufügen weiterer Töne auftreten, wie die folgenden Beispiele zeigen:

» Strophicus / Strophica:

Beim Zusatz Strophicus oder Strophica handelt es sich um einen angehängten Folgeton auf gleicher Tonhöhe.

Strophicus:

Neumen - Strophicus

Pes strophicus:

Neumen - Pes strophicus

Clivis strophica:

Neumen - Clivis strophica vel cum Orisco

Torculus strophicus:

Neumen - Torculus strophicus vel cum Orisco

» Resupinus:

Beim Zusatz resupinus (zu deutsch: „erhaben“) ist der Gruppenneume ein höherer Folgeton angehängt und stellt im Melodieverlauf somit einer Aufwärtsbewegung dar.

Torculus resupinus:

Neumen - Torculus resupinus

Climacus resupinus:

Neumen - Climacus resupinus

» Resupinus flexus:

Beim Zusatz „Resupinus flexus“ sind der Neume ein höherer und ein tieferer Folgeton angehangen.

Torculus resupinus flexus:

Torculus resupinus flexus

» Subpunctis & Praepunctis:

Mit dem Zusatz subpunctis (zu deutsch: „unterpunktet“) wird der Gruppenneume ein tieferer Folgeton angehängt und stellt somit eine Abwärtsbewegung im Melodieverlauf dar. Ebenfalls gibt es einen subbipunctis (zu deutsch: „zweimal unterpunktet“), also den Zusatz mit zwei tieferen Folgetönen. Der Zusatz praepunctis (zu deutsch: „vorgepunktet“) ist hingegen ein der Neume vorangstellten Ton auf gleicher Tonstufe.

Pes subpunctis:

Neumen - Pes subpunctis

Scandicus subpunctis:

Neumen - Scandicus subpunctis

» Flexus:

Beim Zusatz flexus (zu deutsch: „gekrümmt“) wird der Gruppenneume ein tieferer Folgeton angehängt und stellt somit eine Abwärtsbewegung im Melodieverlauf dar.

Porrectus flexus:

Neumen - Porrectus flexus

Scandicus flexus:

Neumen - Scandicus flexus


Notenschlüssel

Die Quadratnotation ist zumeist mit vier horizontalen Notenlinien versehen, auf denen die Melodie mittels der Neumen wiedergegeben wird. Am Beginn jeder Notenzeile steht ein Notenschlüssel, der anzeigt, auf welcher Linie sich die Grundnote befindet. In der Gregorianik werden zwei unterschiedliche Notenschlüssel verwendet: C-Schlüssel sowie F-Schlüssel. Beide Notenschlüssel sind nicht an eine bestimmte Linie gebunden (können auf unterschiedlichen Notenlinien liegen) und wurden von den Komponisten der Choräle je nach Bedarf verschoben. Die vom Notenschlüssel angezeigte Tonhöhe ist relativ zu betrachten und verweist lediglich auf einen Ton, der über einem der beiden Halbtöne der Tonskala liegt.

C-Schlüssel

Quadratnotation - C-Schlüssel
Der C-Schlüssel (Do-Schlüssel) markiert die Stelle auf der Notenzeile, wo das do als Grundton steht. Von hier aus gilt es entsprechend den Anfangston in der Tonleiter zu suchen (siehe Solmisation). Jede Note, die auf seiner Linie liegt heißt do.

F-Schlüssel

Quadratnotation - F-Schlüssel
Der F-Schlüssel (Fa-Schlüssel) markiert die Stelle auf der Notenzeile, wo das fa als Grundton steht. Von hier aus gilt es entsprechend den Anfangston in der Tonleiter zu suchen (siehe Solmisation). Jede Note, die auf seiner Linie liegt heißt fa.

Hinweise!

  • Bei Tonhöhen, die mehr als eine Terz oberhalb der höchsten Notenlinie oder mindestens eine Terz unterhalb der tiefsten Notenlinie liegen, werden zusätzliche Hilfslinien verwendet.
  • Die Notenschlüssel zeigen auf der Notenlinie keine feste Tonhöhe an.

Weitere Notationszeichen

Neben den Neumen und die den Rhythmus beeinflussenden Dehnungszeichen gibt es weitere Zeichen der Notation des Gregorianischen Chorals, die es beim Singen zu beachten gilt:

1. Custos

Ein Custos (zu deutsch: „Wächter“) befindet sich häufig am Ende der Notationslinie und zeigt bereits hier die Tonhöhe des ersten Tons auf der nächsten Zeile an, damit die Sänger nicht den Anschluss verlieren.

Quadratnotation - Custos (Dehnung)

2. Alteration

Bei der Alteration handelt es sich um ein Vorzeichen, das die Erhöhung oder Erniedrigung (Hoch- bzw. Tiefalteration) um je einen Halbton anzeigt.

B molle:

Alteration - Quadratnotation - B molle
Die Notation B molle markiert eine Alteration auf der Tonhöhe H um einen Halbton nach unten.

B durum:

Alteration - Quadratnotation - B durum
Die Notation des B durum hebt die Notation B molle wieder auf und markiert somit eine Alteration um einen Halbton nach oben.


 

Quellen:

  • Bauer, Rudolf: Gregorianik. Faszination der Entschleunigung; Trier 2016, S. 73ff.
  • Caiter, Franz: Graduale für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis. Auszug aus dem Graduale Romanum der Editio Vaticana (Editio Typica 1908), bearbeitet und geordnet nach Ordo Cantus Missae (1972); Stuttgart 2008.
  • Die Noten des gregorianischen Chorals; In: Choralschola Mainz-Hechtsheim, URL: http://www.choral.de/Die_Noten.html (abgerufen am 04.04.2020)
  • Johner, Dominicus: Neue Schule des Gregorianischen Choralgesanges; Regensburg ⁶1929, S. 5.
  • Klöckner, Stefan: Handbuch Gregorianik. Einführung in Geschichte und Praxis des Gregorianischen Chorals; Regensburg ⁴2018, S. 8ff., 189ff.
  • Klöckner, Stefan: Singend beten lernen. Gregorianische Gesänge mit Textgrundlage aus den Psalmen; In: Bildungsstätte Haus Ohrbeck e.V., URL: https://www.haus-ohrbeck.de/fileadmin/user_upload/02_Haus-Ohrbeck/Bibelforum/Bibelwoche/2019/Vortrag_Stefan_Kloeckner.pdf (abgerufen am 04.04.2020)